OFFENBURG. Es kommt nicht so häufig vor, dass in einem historischen Vortrag aus einem Werk der deutschen Punkrockband „Die Ärzte“ zitiert wird. Wolfgang Gall, Leiter des Stadtarchivs und Museums im Ritterhaus, nutzte diesen Ohröffner. Die Aufmerksamkeit im gut gefüllten Schiller-Saal war ihm aber auch ohne diesen Kunstgriff sicher. Schließlich referierte Gall über die Anfänge des Nationalsozialismus in Offenburg und darüber, wer die Nazigründerväter in Offenburg waren. Er zeigte: „Die Ärzte“ haben Unrecht.

img_7525

Gall sprach aus Anlass des Gurs-Gedenktags im Schiller-Saal. In diesem Saal waren am 22. Oktober 1940 die Mitglieder der Offenburger jüdischen Gemeinde von Nazischergen zusammengetrieben worden, um anschließend ins südwest-französische Lager Gurs abtransportiert zu werden. Dort oder später in den deutschen Vernichtungslagern in Osteuropa wurden die meisten ermordet. Gall will an diesem Ort der Schande mit neuen Forschungsergebnissen den Ursprung der Barbarei in Offenburg beleuchten.

Er zitierte eingangs aus „Schrei nach Liebe“. In diesem Song charakterisierten „Die Ärzte“ einen Neonazi so: „Du bist wirklich saudumm, darum geht’s dir gut. Hass ist deine Attitüde, ständig kocht dein Blut. Alles muss man dir erklären, weil du wirklich gar nichts weißt. Höchstwahrscheinlich nicht einmal, was Attitüde heißt! Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe. Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit. Du hast nie gelernt dich zu artikulieren. Und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit.“

Gall bezeichnete diese Charakterisierung als ein unzutreffendes und gar gefährliches Klischee, zumindest was die Offenburger Ur-Nazis in den 1920er-Jahren angeht. Diese und die ersten Angeworbenen für die völkische Sache seien weder dumm gewesen, noch seien sie aus Elternhäusern mit fehlender familiärer Wärme gekommen. Im Gegenteil. Ein beträchtlicher Teil der Rekrutierten der ersten Stunde seien Schüler der 1915 eingeweihten Oberrealschule, heute Schiller-Gymnasium, gewesen. Zugleich waren diese laut Gall auch Mitglieder der heute noch bestehenden Schüler-Verbindung Teutonia-Alemannia.

Ein Amateurfilm aus den 1930er-Jahren, den Schiller-Direktor Manfred Keller zu Beginn des Abends zeigen ließ und der das Schulleben an der Oberrealschule zum Gegenstand hatte, zeigte Sportunterricht im Schiller-Saal im Geist des Militarismus. „Zwei von drei im Film auftauchenden Lehrer tragen das Hitler-Bärtchen“, merkte Keller an und wies darauf hin, dass unter der fröhlichen Atmosphäre des Films die Verwerfungen der Zeit spürbar seien.

Gall verwies auf den Sport als Anknüpfungspunkt für völkische Menschenfänger in Offenburg. Alte Frontkämpfer der Jahrgänge um 1898 wie Otto Wacker, den Gall als den „Nestor“ der 1924 gegründeten Offenburger Ortsgruppe der NSDAP bezeichnete, Otto Sorge, Oskar Wiegert, Gustav Herd, der später das Offenburger Denkmal für den Engländer (!) Sir Francis Drake schleifen sollte, Ludwig Zind oder Josef Schlicker rekrutierten im Schwimm-, Leichtathletik- oder Hockeyverein junge Mitglieder zwischen 15 und 17 Jahren. Vor allem der Kleinkaliberschützenverein mit seinem Schießplatz im Rammersweirer Wald entwickelte sich laut Gall zur Brutstätte der Rechtsradikalisierung junger gebildeter Offenburger und paramilitärischer Aktivitäten. Darauf wiesen der Offenburger Publizist und Sozialdemokrat Adolf Gegg oder die Zeitung „Der Volksfreund“ frühzeitig hin: „Die Sache wird klarer, wenn man weiß, dass dieser Verein zum größten Teil aus waschechten Hakenkreuzlern besteht, deren größte Ziel es zu sein scheint, die Mitglieder für den Bürgerkrieg einzuexerzieren. So wird der Verein zur politischen Organisation mit Waffen, die ohne weiteres verboten gehört“, zitierte Gall einen Artikel im „Volksfreund“ von 1926.

Gall verwies auf den – vor diesem Hintergrund haarsträubenden – Versuch der AfD-Vorsitzenden Frauke Petri, den Begriff des „Völkischen“ wieder salonfähig machen zu wollen. „Dies erhöht unsere Verantwortung für die Zukunft“, schloss Gall seinen Vortrag mit einer Mahnung.

Ralf Burgmaier (BZ 26.10.2016)