„Es ist das einzige Mittel, das wir haben.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat vor ein paar Tagen als erster deutscher Präsident in der Gedenkstätte Yad Vashem gesprochen. Dort hat er angesichts der ewigen Flamme der Erinnerung an die Toten der Shoa die je einzelnen Leben, jedes einzelne Schicksal betont. In den Vernichtungslagern haben deutsche Angestellte und Beamte systematisch vernichtet und gemordet – und sie haben versucht, die Menschen zu Nummern zu machen, jede Erinnerung an sie auszulöschen. Millionenfach.

Eva Mendelsson am Montagvormittag im Schiller-Gymnasium.

Am Holocaust-Gedenktag vergangenen Montag legte Eva Mendelsson, geborene Cohn, wie jedes Jahr seit Beginn der 1990er-Jahre, Zeugnis ab. Vor zwei neunten Klassen des Schiller-Gymnasiums erzählte die 89-Jährige vom Schicksal ihrer Familie, ihrer Mutter, ihrer zwei Schwestern und ihres Vaters. Die ganze Woche war sie unterwegs, in Offenburg noch am Grimmelshausen-Gymnasium, in Schulen in Baden-Baden und Gengenbach, in der Erich-Kästner-Realschule, beim Gedenkgottesdienst am Montagabend in der St. Andreas-Kirche sowie bei der Veranstaltung zur Einweihung der Tafel zum Gedenken an den 1921 bei Bad-Griesbach von zwei Rechtsextremen ermordeten Matthias Erzberger und der Hinweisschilder zur Rolle Paul von Hindenburgs zur Beseitigung der Weimarer Republik. Warum tut sie sich das an? In der Andreas-Kirche sagte sie: „Es ist wichtig, dass wir die Geschichte des Holocaust wachhalten, damit sie sich nicht wiederholt. Es ist unsere Pflicht, der heutigen Jugend von unserer Vergangenheit zu erzählen. Es ist das einzige Mittel, das wir haben, um zu verhindern, dass sich die schreckliche Vergangenheit wiederholt.“ Und den Schüler/innen gab sie mit auf den Weg: „Seid keine Mitläufer, bleibt stark, widersprecht!“

Eva Mendelsson schildert anhand von Fotos aus dem Familienalbum „ein ganz gewöhnliches Leben in Offenburg“. Ihre Eltern, Eduard und Sylvia Cohn, heirateten 1925 und wohnten in der Wilhelmstraße. An den Kiosk bei der Anne-Frank-Schule, heute Technisches Rathaus, hat sie heute noch Erinnerungen. Esther kam 1926 zur Welt, Myriam wurde 1929 geboren und Eva als drittes Kind erblickte 1931 das Licht der Welt. Im Lauf der 1930er-Jahre wurde das Alltagsleben für die Familie Cohn immer beschwerlicher, die antijüdischen Gesetze der Nazis zeigten Wirkung. Der in zweiter Generation als Weinhändler bestens integrierte und vernetzte Eduard Cohn verlor seine Kundschaft, auf die Bänke im Rosengarten durften sich jüdische Mitbürger/innen, auch Kinder, nicht mehr setzen. Am 9. November 1938, morgens um 7 Uhr, wurde der Vater verhaftet und ins Gefängnis, das heutige „Liberty“, gebracht. Sechs Wochen später, am 20. Dezember, kam er abgemagert aus Dachau zurück und musste innerhalb von sechs Monaten Deutschland und seine Familie verlassen. „Die Mutter blieb mit ihren drei Kindern zurück – verzweifelt und voller Sorgen“, so Eva Mendelsson. Er landete in England, zunächst in Kent in einem Aufnahmelager.

Während Esther, seit einer Kinderlähmung körperlich behindert, in einem Kinderheim in München lebte, wurde Sylvia, die Mutter, im Oktober 1940 verhaftet und in den Schillersaal gebracht. Sie hatte eine Stunde Zeit, um ihre Sachen zu packen. Zusammen mit Myriam und Eva wurde sie, wie alle Juden Badens, nach Gurs am Fuß der Pyrenäen verfrachtet. 16 Monate verbrachten die beiden Schwestern zusammen mit ihrer Mutter in diesem Lager, wo es an allem fehlte. Eva Mendelsson erinnert sich an den allgegenwärtigen Schlamm und an die zermürbenden Gänge zur Toilette. Es grassierten die Ruhr und die Gelbsucht. Der Hunger war ständiger Begleiter. Während Sylvia Cohn 1942 nach Auschwitz transportiert wurde – „Mutter verschwand von der Erde“ -, konnten Myriam und Eva aus dem Lager in Gurs herausgeschmuggelt werden. Sie landeten im April 1943 nach einem illegalen Grenzübertritt in Genf. Während Esther 1944 ebenfalls in Auschwitz vergast wurde, kamen Myriam und Eva nach 1945 zu ihrem Vater nach England, zu dem sie seit 1939 keinen Kontakt mehr gehabt hatten.

Esther Cohns Tagebuch, das sie in München geschrieben hat, liegt als Leihgabe in der Kinderabteilung von Yad Vashem. Martin Ruch hat es zusammen mit der Geschichte der Familie Cohn 1992 veröffentlicht. Myriam Cohn starb mit 45 Jahren an Leukämie und hinterließ zwei Kinder. Eva Cohn heiratete Walter Mendelsson, mit dem sie 46 Jahre bis zu seinem Tod zusammenlebte. Tochter Susan hat zwei Söhne, Sohn David drei Kinder und Jonny ebenfalls zwei Söhne.