(zuerst erschienen in der Badischen Zeitung vom 28.5.22)
Was für eine aufregende und auch anstrengende Zeit für eine Einundneunzigjährige!
Eva Mendelssons Kalender für ihre Zeit zwischen dem 8. und dem 22.5. verlangt selbst Jüngeren Respekt ab. Offenburgs ehemaliger Museumsleiter, Dr. Wolfgang Gall, mit der Zeitzeugin seit vielen Jahren befreundet, hatte sich wie in den vergangenen Jahren Mühe gegeben, eine ausgewogene Zusammenstellung zwischen offiziellen Terminen und Zeit mit Freunden und Bekannten zu schaffen. Neben der  Überreichung des Bundesverdienstkreuzes, der Anwesenheit bei der offiziellen Einweihung des Salmen und Zeitzeugengesprächen mit Jugendlichen im Schiller-Gymnasium, in einer Freiburger Schule, in der Erich-Kästner-Schule, im Gymnasium Baden-Baden und im Grimmelshausen-Gymnasium sollte auch Zeit bleiben für Kontaktpflege und ein bisschen badische Luft schnuppern.


Immerhin sollte es nach Mendelssons Aussage der letzte Arbeitsbesuch in Offenburg sein, also eine Art Abschied. Dem wichtigen Anlass entsprechend, waren Sohn David mit Gattin Daliah aus Israel und Enkel Otto (20, Student an der Universität Manchester) mitgekommen, letzterer blieb die volle Zeit an ihrer Seite und reiste mit ihr zurück nach Wales. Aufgeschlossen für alles, begleitete der Student seine Großmutter bei vielen Gelegenheiten und nahm auch das Offenburger Stadtleben mit Interesse zur Kenntnis, stürzte sich in das Getümmel des Stadtfestes und besuchte sogar ein Fußballspiel im OFV-Stadion. „Ich finde Deutschland schön, besonders die Schwarzwaldlandschaft, lerne die Sprache und habe viele nette Menschen kennen gelernt.“ Eigentlich könne er schwer glauben, dass das Schlimme, das seine Familie vor 90 Jahren getroffen hat, ausgerechnet in diesem Land geschehen ist. Er selbst könne sich durchaus vorstellen, hier mal zu leben. Wesentlich skeptischer äußert sich naturgemäß Eva Mendelsson: „Ich glaube inzwischen, dass es immer Nazis geben wird und dass sie nur lange geschwiegen haben. Wenn die guten Leute nicht aufpassen, kann es wieder passieren.“ Erinnerungsstätten wie der Salmen seien wichtiger Teil der Prävention, aber es sei auch schmerzlich für sie, dass das ehemals blühende jüdische Leben von Offenburg nun als Ausstellungsstück hinter Glas anzuschauen sei.. Daher interessierte sie sich bei der Führung durch die Erinnerungsstätte für alle Dinge, die wirklich noch aus der Zeit stammten, als ihre Familie die Synagoge besuchte: die alten hölzernen Stützpfeiler, eine freigelassene Stelle mit der ursprünglichen Bemalung der runden Säulen, die Empore für die weiblichen Synagogenbesucher. Wie jedes Jahr, wärmten auch bei diesem Offenburg-Besuch an erster Stelle die Begegnungen mit Jugendlichen an den Schulen das Herz und gaben Hoffnung.

Bei Mendelssons Zeitzeugengespräch im Schillersaal herrschte 90 Minuten lang absolute Aufmerksamkeit, es gab viele anteilnehmende Aussagen und Fragen. „Frau Mendelsson hat eine sehr lockere Ausstrahlung und ich fand es toll, dass sie ihre Geschichte mit uns geteilt hat“, sagte Schülerin Meleksima A., und Maykel I. bedankte sich für die „emotionale und aufklärende Rede, die wir lebenslang in Erinnerung haben werden“. Saphira R. erlebte es so: “Frau Mendelsson ließ einige erstarren vor der kalten Wahrheit“ der damaligen Zeit. Erstmals sprachen auch Sohn David und Enkel Otto bewegte Worte nach dem Vortrag zum Publikum und riefen zu Wachsamkeit auf. Jetzt erst verstehe er, wie stark die ganze Familie von der Geschichte betroffen sei, sagte Sohn David, und wie schwer es seine Mutter gehabt habe, ohne das „role model“ der eigenen Mutter eine Familie aufzubauen. Ihre große internationale Familie gebe ihr heute Kraft und die Bestätigung, „dass Hitler uns nicht alle vernichten konnte“, so Eva Mendelsson im Schillersaal.